Iris Ludwig, Odette Haefeli
Krisen sind herausfordernde, aber auch erkenntnisreiche Zeiten, in denen sich herauskristallisiert, was sich bewährt und wo noch Entwicklungspotenzial besteht. Funktioniert unser Gesundheitssystem? Wie bew hrt sich das Pflegepersonal in der aktuellen Krise? Wir erlauben uns zu einem Zeitpunkt, an dem vermutlich der erste Peak der Covid-19-Krise überwunden ist, mit Blick auf die Schweiz eine Zwischenbilanz.
Prof. Dr. Elfriede Brinker-Meyendriesch
"Was nicht kontrovers ist, ist nicht der Rede wert." Das ist ein gutes Motto. Es stammt von Ralf Dahrendorf. Brandaktuell durfte man es bei Fridays for Future in Aktion erleben. Da wurden nämlich auf Demos mit selbstgemachten Schildern Kontroversen klipp und klar auf den Punkt gebracht, etwa mit „Die Dinos dachten auch, sie hätten noch viel Zeit“ oder „Weniger Asphalt“ oder etwas unverhüllter „Scheißverein“. Ich fand, wenn etwas so Folgenschweres wie der Klimawandel klar auf der Hand liegt, darf man auch mal deutlich werden. Das pr gt sich gut ein und lädt auch noch die letzte Reihe zum Nachsinnen ein. Wissenschaftlerinnen ist es ja nun leider nicht verg nnt, Kontroversen mit so knappen Worten auszutragen. Das macht deren Dasein manchmal mühsam und auch langatmig. Aber andererseits dürfen sie sich für Kontroversen viel mehr Zeit nehmen und auch viel mehr Worte machen. Und so ist es nun auch hier der Fall.
Prof. Dr. Johannes Gräske, Prof. Dr. Inge Eberl, Dr. Bernadette Klapper, Christine Vogler, Dr. Markus Mai
Die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung ist von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung und somit als hoheitliche Aufgabe der Bundesregierung zu sehen. Hierzu zählt die mit dem Pflegeberufegesetz erstmalig verankerte akademische Ausbildung. Der Einsatz akademisierter Pflegender in der direkten Versorgung zeigt erhebliche Verbesserungen hinsichtlich Krankheitslast und -dauer. Daher weisen sowohl die Konzertierte Aktion Pflege als auch der Wissenschaftsrat in seinem Gutachten von 2012 darauf hin, dass pro Jahr 10 bis 20 Prozent der Angehörigen der Pflegeberufe akademisch zu qualifizieren sind. Dies erfordert bundesweit mindestens 14.000 Studienplätze im Bereich Pflege. Bis heute findet allerdings nur eine rudimentäre Unterstützung der akademischen Primärqualifizierung Pflege an den Hochschulen in Deutschland statt.
Ursula Walkenhorst
Die Pandemiesituation hat im Bildungsbereich zu einer Transformation der Lehre geführt. Während noch bis vor zwei Jahren digitale didaktische Überlegungen für die theoretische und praktische Ausbildung die Ausnahme darstellten, hat die aktuelle Situation zu einem ‚Digitalisierungsschub‘ geführt, der die Lehre vor neue Fragen und Aufgaben stellt. Für die Gesundheitsberufe ergeben sich hieraus verschiedene Optionen, die die Weiterentwicklung der Disziplinen, der Didaktik sowie der Lehrer:innenbildung beinhalten. Dies soll an diesen drei Aspekten aus einer persönlichen Perspektive verdeutlicht werden.
Prof. Dr. Anke Fesenfeld
Die letzten anderthalb Jahre haben uns vieles verdeutlicht und sie haben vieles ver ndert. Wenn wir auf diese anstrengende und fordernde Pandemie-Zeit blicken, so hat sich gezeigt, wie viel professionelle Pflege leisten kann. Und es hat sich auch gezeigt, dass auf professionelle Pflege Verlass ist. Wenn man auf die aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklungen schaut, so findet man hier weit weniger Verl sslichkeit im Hinblick darauf, wie die pflegerische Leistung und die dafür notwendige Expertise seitens der Politik gewertet und beantwortet wird. So fokussiert die Corona-Pandemie wie eine Art Spotlight noch einmal Problemstellungen, die seit langem – weit vor Corona – schon existiert haben.
Prof. Dr. Elfriede Brinker-Meyendriesch
Wer das Buch „Wenn du geredet hättest Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ von Christine Brückner liest, erf hrt in einem fiktiven Monolog, wie Luthers Ehefrau Katharina von Bora ihren Ehemann Luther wort- und witzgewandt ermahnend fragt „Bist du sicher, Martinus?“. Von Luther selbst kennen wir Draufgängerisches, beispielsweise: „Tritt fest auf, mach’s Maul auf, hör bald auf.“ Ob er damit auch seine Ehefrau meinte, sei dahingestellt. Wahrscheinlich nicht. Denn was Frauen anbetrifft, sind durchaus weniger ermunternde Töne von Luther überliefert.
Wieso wird das hier angeführt, inwiefern geht es hier um „ungehaltene Reden“ einerseits und den wirkungsvollen Auftritt andererseits? Weil sich einerseits die Pflegelehrerbildung mit dem Gestus des Ungenügenden „Immer noch Lehrer zweiter Klasse?“, seit 30 Jahren selbst hinhält und malträtiert, sie aber andererseits weitgehend tonlos geworden ist. Grundsätzliche Diskussionen zu Studienstrukturmodellen, wie zu Anfang der Verwissenschaftlichung, bleiben aus. So mag manche
ungehaltene Rede ungehalten geblieben sein. Als sei alles gesagt und man habe sich einverstanden eingerichtet. Nun kann aber mit dem Gestus des Ungenügenden entgegengesetzt werden, dass, nur weil etwas bestehe und auch noch expandiere, dies noch lange kein gutes Zeichen sein müsse, da bekanntlich das Übel sich beharrlich halte.
Um einer solchen Provokation entgegenzutreten und das Wort wieder zu ergreifen, sollte die Community selbstreflektierend Stand und Perspektiven der Pflegelehrerbildung überdenken und ggf. eine neue Richtung einschlagen.
Bundesverband Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe (BLGS)
Seit Jahren herrscht an Pflegeschulen ein erheblicher Mangel an qualifiziertem Lehrpersonal, der sich aufgrund der Altersstruktur der Kollegien in den kommenden Jahren noch verschärfen wird. Schon jetzt können freiwerdende Stellen kaum noch nachbesetzt werden. Den meisten Schulen ist es dadurch nicht möglich, ihre Ausbildungskapazitäten bedarfsgerecht zu erhöhen; sie müssen teilweise sogar Ausbildungsplätze abbauen und Ausbildungsinteressierte abweisen.
Prof. em. Dr. Elfriede Brinker-Meyendriesch