Entwicklungen im Lehramt – Ergebnisse qualitativer Forschung

entwicklungen im lehramt fpr gesundheit und pflegevon Astrid Seltrecht (Hrsg.)

Mabuse, Frankfurt a. M., 2022, 254 Seiten, 38,00 €, ISBN 978-3-86321-410-4, 38,00 Euro

An der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg werden Lehrer*innen in der Fachrichtung Gesundheit und Pflege ausgebildet. Die Herausgeberin veröffentlicht – einer umfangreichen Einführung folgend – 25 Forschungen (Masterarbeiten) von Studierenden in einem Sammelwerk, um deren Forschungen für die Wissenschaft sichtbar zu machen und in den fachlichen Diskurs einzubringen.

Astrid Seltrecht ist Inhaberin des Lehrstuhls Berufliche Didaktik personenbezogener Dienstleitungsberufe – mit Schwerpunkt Fachdidaktik unter besonderer Berücksichtigung des Konzepts Doppelter Fallbezug. Die Autorenschaft ist homogen und besteht aus Studierenden des o.a. Studienganges, der Herausgeberin selbst und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen.

Aufbau

Das Sammelwerk setzt sich zusammen aus der Einleitung (Teil 1) der Herausgeberin, in welcher sie auf das Fallverstehen eingeht. Zusammen mit Vivienne Thomas folgt eine Abhandlung zu qualitativer Forschung bzw. zur Grounded Theory mit einer Kodieranleitung für Studierende. Dem schließt sich ein Arbeitsbogen „Forschungslogik“ mit dem Handwerkszeug zur Forschungsarbeit von Vivienne Thomas an.

Weitere Beiträge der Autor*innen sind den Teilen 2 bis 5 zugeordnet:
Teil 2 Professionalisierung von Lehrkräften der beruflichen Fachrichtung Gesundheit und Pflege
Teil 3 Professionalisierung am Lernort Schule
Teil 4 Professionalisierung am Lernort berufliche Praxis
Teil 5 Gesundheits- und pflegewissenschaftliche Forschung zu beruflichen und außerberuflichen Gesundheits- und Pflegeleistungen

Es handelt sich bei den Teilen 2 bis 5 um Autoren­kollektive von zwei und nur zweimal drei Studierenden, wobei die Herausgeberin zweimal auch Mitautorin ist und ansonsten Vivienne Thomas und Bianca Lange oftmals als Mitautorinnen erscheinen. Es handelt sich mit einer Ausnahme um Autorinnen.

Inhalt

Teil 1 Einleitung
Astrid Seltrecht: Lehramtsstudiengang in der beruflichen Fachrichtung Gesundheit und Pflege an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Astrid Seltrecht erklärt das Konzept des Doppelten Fallbezugs, das Konzept Evidence-based practice, das des Forschenden Lernens sowie die Verzahnung von fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Studienanteilen als konstitutiv für den Studiengang. Sie konkretisiert das Ziel und den Aufbau des Buches – wobei betont wird, dass die Forschungsarbeiten Studierender zu wenig in der Fachöffentlichkeit diskutiert würden. In diesem Sammelwerk gehe es – so Seltrecht – deshalb darum, möglichst viele Arbeiten vorzustellen, ohne dabei bei der Vorstellung der Masterarbeiten in die Tiefe gehen zu können. Jeweilige Co-Autor*innen sind wissenschaftliche Mitarbeiter*innen bzw. sie selbst, die die Studierenden bei der Verfassung der Beiträge unterstützt haben. Bei den Forschungsarbeiten handelt es sich um Masterarbeiten. Diese Beiträge weisen immer dieselbe Systematik auf.

Astrid Seltrecht: Fallverstehen im pädagogischen Handeln und im qualitativen Forschungshandeln. Zur Bedeutung von Hermeneutik in der Lehrer*innenbildung
Im Unterricht geht es zum Unterrichtsbeginn und im weiteren Verlauf immer wieder darum, Situationsdefinitionen auszuhandeln. Das ist ein Prozess, in dem sich mit Bezug auf Habermas (2016, 1987) um Verständigung bemüht wird. Dies erfordert eine Ordnung für Kommunikationsprozesse – z. B. sprachliche Äußerungen, die sich auf den Gegenstand des Gesprächs, auf das Setting oder auf das Beziehungsgefüge beziehen können. Dabei zieht die Autorin die fünf Ordnungs­ebenen von Kallmeyer und Schütze (Kallmeyer/Schütze 1977, Kallmeyer 1977) heran. Diese Ordnungsebenen gelten auch für Forschungskommunikation. Insofern verbessert sich mit qualitativer Forschung auch die pädagogische Kommunikation. Die Autorin zieht „Verbindungslinien zwischen qualitativer Forschung und Lehrerhandeln“ (S. 23 ff) mit den Textabschnitten: „Gesprächsführung zwischen Spontanität und Restriktivität“, „Leitfadenbürokratie und Unterrichtsentwurfsbürokratie“ und „Induktives Schließen und abduktives Schließen“. In einem weiteren Unterkapitel „Vom Fallbezug zum Fallverstehen“ geht Astrid Seltrecht dann darauf ein, dass es beim Fallverstehen eine Gemeinsamkeit zwischen qualitativer Forschung und Lehrer*innenhandeln gebe. Beim Lehrer*innenhandeln wiederum gebe es den pädagogischen Fallbezug und den gesundheits- und pflegespezifischen Fallbezug (Abbildung 1, S. 31). Die Gemeinsamkeit zwischen Fallbezug und Fallverstehen wird im Weiteren in Hinblick auf das „Verstehen „erklärt, wobei auch auf Hermeneutik eingegangen wird.
Vivienne Thomas, Astrid Seltrecht: Zur Entstehung qualitativer Forschung unter besonderer Berücksichtigung der Grounded Theory. Kodieranleitung für Studierende

Nachdem nun einige Grundsätze und Anschauungen von der Herausgeberin erklärt sind, geht sie zusammen mit der weiteren Verfasserin auf die „Entstehung der qualitativen Forschung“ und den Methodenstreit gegenstandsangemessener Methoden „für eine auf das soziale Handeln ausgerichtete Sozialforschung“ ein (S. 35 ff) – um dann im Folgenden auf die Entstehung und Entwicklung der Grounded Theory zu kommen. Im Vorfeld dazu gibt es einen Streifzug durch verschiedenste Philosophien wie den Positivismus, den Kritischen Rationalismus und die Kritische Theorie. Dabei geht es auch um die Bedeutung der ersten und zweiten Chicagoer Schule und die Theorie des symbolischen Interaktionismus (begründet von Herbert Blumer; S. 38-39). Mit der Etablierung der qualitativen Forschung als eine eigene Disziplin entwickelten Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss die Grounded Theory. Diese bildete sich – auch mit weiteren Verfasser*innen wie z. B. Juliet Corbin und Franz Breuer – in mehreren Varianten aus. Thomas und Seltrecht konzentrieren sich auf Strauss und Corbin – und hierbei ausführlich auf deren Codierverfahren – und auf den Entwurf einer gegenstandsverankerten Theorie und inkludieren auch die.

Noch grundsätzlich und einführend bleibend folgt das Kapitel von Vivienne Thomas, in dem der „Arbeitsbogen Forschungslogik“ „mit Handwerkszeug zur Forschungsarbeit“ (S. 59 ff) mit einem Seitenumfang von gut 40 Seiten vorgestellt wird. Dabei geht es um den systematischen Aufbau einer Forschungsarbeit. Hier wird der gesamte Forschungsprozess unter den entsprechenden Überschriften mit einem „Tool zur Planung des Schreibprozesses“ (S. 66) detailliert erklärt. Das Kapitel wendet sich direkt an die Studierenden. Damit ist die Einleitung (S. 10-100) umfänglich abgeschlossen.

Der Teil 2 ist der Überschrift: Professionalisierung von Lehrkräften der beruflichen Fachrichtung Gesundheit und Pflege gewidmet.
Dort finden sich sechs Beiträge (S. 102-136) mit Ergebnissen folgender Forschungsthemen und -methoden: Ergotherapie – leitfadengestützte Interviews mit Lehrkräften; Chamäleon Effekt – narrative berufsbiografische Interviews zur sozialen Welt von Pflegelehrer*innen; Resilienz – Ergebnisse einer Biografieanalyse; Mediennutzung – problemzentrierte Interviews mit Lehrkräften; Reflexion professionellen Handelns – praxisreflektierende Videoanalyse; Achtsamkeit und Selbstwirksamkeit – systematische Literaturarbeit.

Diese Beiträge, und auch die weiteren, folgen immer kurz und konzentriert der vorher erklärten Systematik: Einleitung, theoretische Fundierung, methodische Konzeption, Analyse, Ergebnisse, Ausblick, Literatur.
Teil 3 ist überschrieben mit: Professionalität am Lernort Schule.
Unter der o. a. Überschrift sind acht Beiträge auf den Seiten 138 bis 186 forschungsthematisch und -methodisch mit den Ergebnissen kurz expliziert. Behandelt werden: Curriculumentwicklung – Beobachtung und leitfadengestützte Interviews; Bedeutung ärztlicher Leitlinien Physiotherapielehrkräfte – leitfadengestützte Interviews; Sprachbarrieren von Migrant*innen – leitfadengestützte Expert*inneninterviews von Lehrkräften an berufsbildenden Schulen; Auswirkungen des Entkleidens – episodische Interviews Schüler*innen und Lehrer*innen; „Tafeldienst“ – Unterrichtbeobachtungsprotokolle; Subjektive Gesundheitsstrategien Schüler*innen höherer Berufsfachschulen – Gruppendiskussionen; Ehrenamt Beratung Vertrauenslehrer*innen – leitfadengestützte Expert*inneninterviews; Qualitätsmanagement, Feedback-Kultur – Entwicklung eines Feedback-Instruments auf Basis eines Expert*inneninterviews.

Teil 4 Professionalisierung am Lernort berufliche Praxis
Sieben Beiträge mit Ergebnissen folgender Forschungsthemen und -methoden finden sich unter der o. a. Kapitelüberschrift auf den Seiten 188 bis 222: Transkulturell sensibles Pflegehandeln – Gruppendiskussion; Praxiseinsätze Pflegeausbildung – Gruppendiskussion; Berufliche Handlungskompetenz – qualitative Evaluation Schüler*innenstation; Rollenverständnis von Mentor*innen – episodische Interviews; Fortbildung Physiotherapie – leitfadengestützte Interviews; Lernprozessbegleitung praktische Physiotherapieausbildung – Expert*inneninterviews.

Teil 5 Gesundheits- und pflegewissenschaftliche Forschung zu beruflichen und außerberuflichen Gesundheits- und Pflegeleistungen
Der letzte Teil beinhaltet fünf Beiträge auf den Seiten 224 bis 254. Damit endet das Werk. Hier geht es ebenfalls konzentriert um Ergebnisse folgender Forschungsthemen und -methoden der Studierenden in ihren Masterarbeiten: Ethische Entscheidungsfindung ICN-Ethikkodex – qualitative Leitfadeninterviews; Ambulante Pflege – leidfadengestützte Expert*inneninterviews; Pflegebedürftige Angehörige von Pflegefachkräften – zwei Gruppendiskussionen; Entscheidungsprozesse in Familien – familiengeschichtliche Gespräche, Reflexion; Agrarfamilien Angehörigenpflege – narrative Einzelinterviews.

Diskussion

Das Sammelwerk beinhaltet in gebündelter Form ein Kaleidoskop von Forschungsthemen mit den Forschungsmethoden und Ergebnissen der beruflichen Fachrichtung Gesundheit und Pflege. Das Buch mit seinen Beiträgen ist den hochschuldidaktischen Schriften der Lehrerbildung in Bezug auf „Forschendes Lernen und Forschen Lernen“ zuzurechnen.

Interessierte Studierende bekommen konzentriert die Grundlagen qualitativer Forschung vermittelt und ein Arbeitsinstrumentarium vorgestellt, sodass sie sich an den Beiträgen orientieren können. Wegen der durchgehend gleichen Struktur der Forschungsbeiträge besteht eine gute Vergleichbarkeit für alle Rezipient*innen.

Auch Dozierende, Hochschullehrende und beruflich Lehrende haben die Möglichkeit, Rückschlüsse für ihre eigenen Veranstaltungen usw. zu ziehen. Über diesen praktischen Nutzen hinaus hat das Sammelwerk – auch wegen der gut erklärten Systematik, seiner Einordnung in die qualitative Forschung sowie seiner Anschaulichkeit durch die Kurzbeiträge der Autor*innen – einen exemplarischen Charakter und kann als hochschuldidaktischer Gewinn für die berufsbildende Lehrer*innenbildung angesehen werden.

Herauszuheben ist eine Verbindung von pädagogischem Handeln und qualitativer Forschung hinsichtlich der Kommunikation. Ersichtlich wird, welchen Wert die qualitative Forschung – über ihren eigenen Sinn hinaus – für berufliche Lehrer*innenbildung haben kann.

Aus eigener Lehr- und Forschungspraxis entstanden, kann die Hochschullehrerin Astrid Seltrecht durch die Erarbeitung und Veröffentlichung des Werkes im Sinne einer internen Evaluierung selbst Nutzen aus dem Werk ziehen und gleichzeitig die wissenschaftliche Kommunikationskultur fördern. Das gilt insbesondere auch für die Masterabsolvent*innen als mögliche Nachwuchswissenschaftler*innen, die diese wissenschaftliche Kommunikationsmöglichkeit nutzen, um sich mit der Community mittels schriftlicher Verbreitung auszutauschen. Deshalb erscheint es wertvoll, über dieses Werk mit seinen vielfältigen forschenden Ausarbeitungen an die wissenschaftliche Debatte anschließen zu wollen. Letzteres könnten sich motivierte Leser*innen des Sammelwerkes hier allerdings auch ausgiebiger wünschen: nämlich einen zumindest kurzen Abgleich mit den bestehenden – aber noch wenigen – hochschuldidaktischen Konzepten von „Forschendem Lernen und Forschen Lernen“ speziell in der Lehrer*innenbildung der beruflichen Fachrichtung Gesundheit und Pflege. Gerade hier müssten die wenigen bestehenden Konzepte diskursiv aufgegriffen und gewürdigt werden, damit die sich noch in der Werdensphase befindliche Disziplin der Lehrer*innenbildung der Gesundheitsberufe sich in Forschung und Lehre an den Hochschulen und Universitäten weiterentwickeln kann und auch diesbezüglich Konturen annimmt und entsprechend Substanz bietet. Dieses Minus ist der Wermutstropfen dieses Bandes. Für sich stehend ist das Werk wertvoll und ein forschungsmäßig begründetes, aufbereitetes und gut rezipierbares Lehr-Lern-Beispiel der Hochschuldidaktik der Lehrer*innenbildung. Möge es seine rege Verbreitung und Beachtung finden.

Eine Rezension von Prof. em. Dr. Elfriede Brinker-Meyendriesch