Emotionale Herausforderungen in der Pflegeausbildung – Konzeptentwicklung einer persönlichkeitsstärkenden Praxisbegleitung

Emotionale Herausforderungen in der PflegeausbildungClaudia Winter
Emotionale Herausforderungen in der Pflegeausbildung
Konzeptentwicklung einer persönlichkeitsstärkenden Praxisbegleitung

Mabuse-Verlag, Frankfurt a. M., 2020, 296 S., 39,95 €, ISBN 978-3-86321-535-4

Claudia Winter möchte mit ihrem umfangreichen Buch einen Beitrag zur Weiterentwicklung der praktischen Pflegeausbildung leisten. Dafür geht sie in einem empirischen Teil der Frage nach, mit welchen emotionalen Belastungssituationen Auszubildende in der praktischen Pflegeausbildung konfrontiert sind und wie sie diese erleben. Basierend auf den Ergebnissen dazu entwickelt sie ein Konzept für eine persönlichkeitsstärkende Praxisbegleitung. Dies geschieht in der Intention, auch das Bewusstsein dafür zu stärken, welchen Einfluss belastende Erlebnisse in der praktischen Ausbildung haben können. Als Konsequenz sollte die Praxis als bedeutsamer Lernort vermehrt anerkannt werden. Zugleich zielt die Autorin mit dem entwickelten Konzept darauf ab, Hilfestellungen für eine positive und offene Emotions-, Reflexions- und Gesprächskultur zu geben, in der Auszubildende auf anspruchsvolle emotionale Herausforderungen in der Praxis vorbereitet und mit diesen dann nicht alleine gelassen werden.

In ihrer Studie unterzog Winter 79 Reflexionsarbeiten zum Thema „Belastende Situationen und der Umgang damit“ einer qualitativen Inhaltsanalyse nach drei übergeordneten Aspekten: Bei den emotionalen Hintergründen wurden Gefühle wie Hilflosigkeit, Angst, Trauer, Verzweiflung, Zorn oder Aggression genannt. Die kognitiven Hintergründe beleuchten, wie Auszubildende ihre Belastungen erklären oder begründen. Handlungshintergründe erfassen Reaktionen im Sinne von Verhaltens- oder Handlungsweisen der Auszubildenden in belastenden Situationen. Das Spektrum der genannten Belastungssituation ist sehr weit und reicht vom Aushalten körperlicher Nähe über Konfrontation mit Aggression und Gewalt, Umgang mit Sterben und Tod, ethische Dilemmata in der Pflege, Zusammenarbeit im Team bis hin zum Umgang mit ökonomischen Zwängen. Mit 165 Seiten ist die sehr detaillierte und zitatreiche Beschreibung der Studienergebnisse als das Kernstück des Buches zu sehen.

Auszubildende in der Pflege sehen sich in ihren Praxiseinsätzen oft zum ersten Mal in ihrem Leben mit Leid, Krankheit, Sterben und Tod konfrontiert. Diese Erfahrungen prägen sie nachhaltig beruflich sowie persönlich für ihr weiteres Leben. In Reflexionen über die praktische Ausbildung machen sie auf die mangelhafte Anleitung und Begleitung in der praktischen Ausbildung diesbezüglich aufmerksam, kritisieren diese, lehnen sich jedoch nicht dagegen auf. „Vielmehr zeigt sich eine Hilflosigkeit, die sich auf die eigene Ohnmacht zurückführen lassen dürfte“ (S. 10). Missstände und Belastungen werden kritisiert und die Diskrepanz zu den oftmals hohen eigenen Erwartungen wird wahrgenommen, doch scheint es zu einer Habituation zu kommen, wenn Auszubildende – am unteren Ende der Hierarchie stehend – dies alles hinnehmen. Sie erleben das, was sie in der Praxis vorfinden, zum Teil als belastend, gewöhnen sich allerdings daran und schweigen oftmals darüber. Negative Gefühle, die in der praktischen Pflegeausbildung erlebt werden, werden selten thematisiert und Auszubildende lernen, sie auszuhalten und äußerlich zu funktionieren. Sie entwickeln angesichts des Dilemmas zwischen dem Anspruch einer am pflegebedürftigen Menschen orientierten Pflege und der erlebten Realität des funktionalen Pflegealltags diverse Überlebensstrategien, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben. Ohne entsprechende Unterstützung passen Auszubildende sich in den meisten Fällen an gegebene Strukturen an, auch wenn sie damit gegen eigene Werte, Einstellungen und Normen verstoßen. So ist es nicht verwunderlich, dass viele sich bereits in der Ausbildung die Frage stellen, ob sie in diesem Beruf überhaupt bleiben wollen bzw. bei mangelnder Anpassung an das bestehende System als ungeeignet angesehen werden.

Das im Anschluss vorgestellte Konzept einer persönlichkeitsstärkenden Praxisbegleitung geht von der Grundannahme aus, Bildung sei umfassende Persönlichkeitsbildung, die vornehmlich durch Förderung personaler Kompetenzen sowie von Reflexionsfähigkeit erlangt wird. Bildung zielt dabei auf die drei Grundfähigkeiten Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität ab. Lernende erleben sich hierbei als Betroffene und gleichsam Mitverantwortliche. Kompetenzen wie (Selbst)Kritikbereitschaft, Argumentationsbereitschaft, Empathie sowie die Fähigkeit zu vernetztem Denken sollen gestärkt werden. Auszubildende müssen gestärkt werden „in ihren Widerstandskräften, ihren Selbstschutzkompetenzen und ihrem kritisch-analytischen, gesellschaftlichen Bewusstsein“ (Oelke, 2018*, zit. auf S. 221). Reflexion über die eigene Person, über ethische Fragestellungen sowie über politische Dimensionen sind hierbei Schlüsselelemente und bilden so ein Gegengewicht zur in der Pflege oft beobachtbaren Handlungsorientierung. Winter nennt als drei didaktische Grundsätze ihres Konzepts „Persönlichkeitsbildung als übergreifende Zielbestimmung“, „Nicht widerständige, sondern widerstandskräftige Auszubildende“ sowie die „Stabilisierung Auszubildender durch eine positive, offene Emotionskultur“ (S. 224 – 226). Wer beim Lesen dieses Kapitels nach einem konkreten „Fahrplan“ für diesen Aspekt der Pflegeausbildung sucht, der wird nicht fündig werden. Die Autorin erarbeitet anhand der Belastungssituationen aus dem empirischen Teil theoriegeleitet Ansätze zum Umgang mit diesen Situationen, die Auszubildende erleben, und gibt Impulse zu verschiedenen Ansätzen der Bearbeitung. Auch die letzten vier Seiten des Buches unter dem Titel „Hinweise zur Umsetzung des Praxisbegleitungskonzepts“ (S. 283 – 286) bleiben eher vage und geben nur allgemeine Hinweise. Hier wäre eine konkrete Handlungsanleitung und evtl. auch tabellarische Darstellung der Umsetzung wünschenswert, aus der Ausbildungsverantwortliche oder Lehrende entnehmen können, wann, in welchem Umfang und mit welchen Ressourcen diese persönlichkeitsstärkende Praxisbegleitung in die Ausbildung integriert werden kann.

Die Lektüre dieses Buches ist kurzweilig und spannend, Erinnerungen an die eigene Pflegeausbildung werden wach. Es wird ganz klar bewusst, welch große Herausforderung eine gelungene Pflegeausbildung darstellt, die Pflegepersonen ermächtigt erlebte Belastungen wahrzunehmen, zu reflektieren und in geeigneter Art und Weise damit umzugehen ohne entweder daran zu zerbrechen oder unerreichbar für die Nöte der zu Pflegenden zu werden. Es ist allen in Ausbildungen der Gesundheitsberufe Tätigen – sei es in der Theorie oder in der Praxis – zu empfehlen!

Eine Rezension von Dr. Christine Rungg


* Oelke, Uta (2018). Szenisches Lernen an der Hochschule. In: Sahmel, Karl-Heinz (Hrsg., 2018): Hochschuldidaktik der Pflege und Gesundheitsfachberufe. Berlin: Springer Verlag, 143-153.