Pflegedidaktik zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Die Coolout-Theorie und ihre Bedeutung für die Unterrichtslehre

pflegedidaktik zwischen anspruch un wirklichkeit cooloutOliver Weinmann
Pflegedidaktik zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die Coolout-Theorie und ihre Bedeutung für die Unterrichtslehre

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main, 2021, 131 S., 24,95 €, ISBN 978-3-86321-558-3

Das bestehende Spannungsfeld zwischen geforderten pflegefachlichen Ansprüchen und dem Wunsch der Sicherung von Arbeitsabläufen innerhalb ökonomisch motivierter Vorgaben stellt eine große Herausforderung für Auszubildende, beruflich Pflegende, Praxisanleitende und Lehrende im Fachbereich Pflege dar. Durch Personalmangel, Wettbewerbsverhalten und private Trägerschaften erhöht sich der ökonomisierungsdruck im Pflegeberuf, was nicht selten die Rückkehr in eine reine Funktionspflege zur Folge hat.

Oliver Weinmann ist Gesundheits- und Krankenpfleger, Praxisanleiter und Pflegep dagoge (B. A.). Er arbeitet am Caritas-Bildungszentrum Bad Mergentheim, ist Mitglied der Coolout-AG der HWG Ludwigshafen und hat die einleitend erwähnten Diskrepanzen aufgrund seiner Qualifikationen mit Sicherheit selbst erlebt oder zumindest im Kollegium beobachtet. Im Rahmen seiner Bachelorarbeit hat Weinmann eine Literaturarbeit durchgeführt, welche die Grundlage für das nun publizierte Buch bildet.

Im Anschluss an eine persönliche Danksagung und eine Kurzzusammenfassung des gesamten Inhalts ist das Buch in sechs zentrale Kapitel untergliedert. Einleitend wird das „Modell der multidimensionalen Patientenorientierung“ nach Wittneben kurz erläutert und eine erste Verknüpfung zur Coolout-Theorie hergestellt. Neben der Nennung der zugrundeliegenden Forschungsfrage erhalten Lesende eine zusammenfassende Einführung in die Gliederung des Buches.

Im Rahmen des zweiten Kapitels wird das Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit für Pflegende und im Pflegeberuf Lehrende verdeutlicht. Die Theorie des Coolout nach Kersting wird anhand entsprechender Begriffe erklärt. Ebenso wird das Verhältnis von Kälte und Moral in der Gesellschaft als theoretischer Rahmen der Coolout-Theorie abgebildet, bevor konkrete Reaktionsmuster auf divergierende Ansprüche grafisch dargestellt und anhand direkter Beispiele aus dem beruflichen Umfeld von Pflegenden und Lehrenden im Pflegeberuf hervorgehoben werden.

Der Weg von der allgemeinen Didaktik zur kritisch-konstruktiven Pflegelernfelddidaktik bildet den Gegenstand des dritten Kapitels. Nachdem der Bildungsbegriff zunächst aufgegriffen und anhand unterschiedlicher Interpretationen erläutert wurde, wird er im Rahmen der kritisch-konstruktiven Didaktik weitergeführt. Weitere Ausführungen zum Kompetenzbegriff leiten in eine Darstellung der Lernfeldorientierung in der Berufspädagogik bzw. in die kritisch-konstruktive Pflegelernfelddidaktik nach Wittneben über. Die Pflegelernfelddidaktik wird umfassend und anhand zugrundeliegender Modelle, Dimensionen und Annahmen erklärt.

Das vierte Kapitel beinhaltet die Darstellung der Coolout-Theorie als Dimension des heuristischen Stufenmodells. Um einer falschen Idealisierung vorzubeugen, werden die Inhalte des dritten Kapitels in der Coolout-Theorie unter Beachtung des Widerspruchs zur ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Situation beleuchtet. Lehrende im Fachbereich Pflege erhalten konkrete Tipps für den Umgang mit auftretenden Diskrepanzen und erfahren unter anderem, wie sie den Umgang mit divergierenden Anforderungen und das berufspolitische Interesse der Auszubildenden fördern können. Das „Modell der multidimensionalen Patientenorientierung“ wird durch die Dimension der Coolout-Theorie erweitert und so zum „Multidimensionalen Modell der Patientenorientierung und Funktionalität“.

Eine Vertiefung der vorab theoretisch abgehandelten Inhalte erfolgt im fünften Kapitel. In Form eines Fallbeispiels wird das Thema Ulcus cruris venosum aufgegriffen. Nachdem das Krankheitsbild und die im Expertenstandard Pflege von Menschen mit chronischen Wunden formulierten Ziele (z. B. Patientenorientierung) erläutert wurden, werden zentrale Begriffe wie normativer Anspruch, Funktionalität, Reaktionsmuster, Idealisierung etc. exemplarisch im Fallbeispiel ausgewiesen,
erklärt und vor dem Hintergrund unterschiedlicher theoretischer Ansätze erörtert. Das Fallbeispiel zeigt auf, wie das Thema Ulcus cruris venosum im Unterricht behandelt werden könnte, um begleitend Kompetenzen in Bezug zur Coolout-Theorie anzubahnen und ggf. ein erweitertes Pflegebildungsverständnis vermitteln zu können.

Im sechsten und letzten Kapitel werden die zentralen Inhalte in einem Resümee zusammengefasst. Der darauffolgende Ausblick enthält die Information, dass eine umfassende Darstellung der Erweiterung des Pflegebildungsverständnisses besonders durch vergleichbare Analysen der restlichen Stufen des „Multidimensionalen Modells der Patientenorientierung und Funktionalität“, sowie in Bezug zur Symptom-, Krankheits- und Verständigungsorientierung möglich wäre. Konkrete
Vorschläge zur Integration des „Multidimensionalen Modells der Patientenorientierung und Funktionalität“ in den Unterricht und der abschließend hergestellte Bezug zu mittlerweile aktualisierten gesetzlichen Forderungen runden das Kapitel und damit die fachlichen Inhalte der vorliegenden Publikation ab.

Im Allgemeinen erscheint das Buch von Oliver Weinmann in der fachlich nüchternen Darstellung einer wissenschaftlichen Arbeit, welche mehr durch Inhalte als durch Grafik und Design überzeugt. Den Lesenden wird bereits in der Einleitung einiges an Fachwissen und dementsprechendem Vokabular abverlangt, was bereits für fachfremde Akademiker ohne Pädagogikstudium herausfordernd erscheint. Einen tollen Anstoß zum Nachdenken hingegen liefert die sachliche Darstellung
der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Egal ob in den angeführten Reaktionsmustern oder im Fallbeispiel – Menschen, die im Pflegesektor arbeiten, werden sich finden. Dabei helfen nicht nur die Kurzzusammenfassungen am Ende der Kapitel, sondern auch die Darstellung zentraler Begriffe im Fallbeispiel, um das Verständnis der Lesenden zu fördern und einen direkten Praxisbezug herzustellen. Es ist schade, dass der gesetzliche Rahmen der ursprünglichen Arbeit z. B.
in Kapitel 2.1 nicht aktualisiert wurde und somit noch nicht den Vorgaben der generalistischen Pflegeausbildung entspricht (S. 22). Der Vergleich gegebener Informationen mit den aktuellen Gesetzestexten erfordert an dieser Stelle einiges Engagement, wenn Lesende den aktuellen Rahmen kennen möchten. Auch enthaltene Informationen zu fehlenden Pflegepersonaluntergrenzen in Deutschland (S. 24) sind nicht mehr aktuell und hätten in einem 2021 veröffentlichten Buch mit wenig Aufwand angepasst werden können.

Das vorliegende Buch enthält eine inhaltlich anspruchsvolle, aber interessant gestaltete Erörterung von Anspruch und Wirklichkeit in der Pflegedidaktik. Die Ergebnisse zu diesem stets aktuellen Thema richten sich klar an im Pflegeberuf Lehrende mit entsprechendem akademischen Hintergrund und sind für diese Zielgruppe passend dargestellt. Für weitere Publikationen sollte eine Überarbeitung des gesetzlichen Rahmens angestrebt werden. Ergänzend könnten enthaltene Informationen in einem Lehrbuch etc. niederschwellig aufbereitet werden, um den Wissensgewinn und -transfer für Auszubildende, Pflegende und Praxisanleitende zu erleichtern und aktiv zum Abbau weiterer Differenzen zwischen fachlichem Anspruch und praktischer Wirklichkeit beizutragen.

Eine Rezension von MScN Thomas Herget