Sabine Balzer
Chamäleonkompetenz
Eine Studie in der pflegepraktischen Ausbildung
Mabuse Verlag, Frankfurt am Main, 2019, 376 Seiten, 49,95 €, ISBN 978-3-86321-392-3
Die Pflegeausbildung ist gekennzeichnet durch das Lernen an im Wesentlichen zwei Lernorten: dem Lernort Schule und dem Lernort Pflegeeinrichtung bzw. Praxis. Laut der EU-Beruferichtlinie soll die Ausbildung am Lernort Praxis mindestens 2500 Stunden umfassen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Ausbildungsbedingungen am Lernort Praxis von den Auszubildenden als schlecht erlebt werden. In einer Voruntersuchung hat die Autorin festgestellt, dass die Auszubildenden in der Praxis ein Dilemma zwischen Anspruch und Wirklichkeit erleben, bei dem sie sich immer wieder zwischen Patientenorientierung und Patientenignorierung entscheiden müssen. Die Autorin konnte zeigen, dass Auszubildende unterschiedliche Strategien haben, um darauf zu reagieren bzw. damit umzugehen. Diese Fähigkeit der situativen Anpassung an die Ausbildungsbedingungen vor Ort beschreibt sie bildhaft mit dem Begriff der Chamäleonkompetenz. Ziel der Folgeuntersuchung, deren Ergebnisse im vorgestellten Buch präsentiert werden, ist die Systematisierung und theoretische Untermauerung dieser Kompetenz. Es wird der Frage nachgegangen, wie das Herkunfts- und Ausbildungs-Milieu sowie der Habitus der Auszubildenden deren Anpassungsverhalten beeinflussen.
Die Autorin Sabine Balzer ist Krankenschwester mit langjähriger Berufserfahrung, Lehrerin für Pflegeberufe und Diplom-Pflegepädagogin. Sie leitet die Berufsfachschulen für Pflege und Krankenpflegehilfe, kbo-Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg am Inn. Das vorliegende Buch ist die Publikation ihrer Dissertationsschrift zur Dr. phil. an der Universität Hamburg. Die Ergebnisse der benannten Voruntersuchung sind veröffentlicht unter: Balzer, Sabine/ Kühme, Benjamin (2009): Anpassung und Selbstbestimmung in der Pflege: Studien zum (Aus-)Bildungserleben von PflegeschülerInnen. Frankfurt am Main: Mabuse.
Nach einer einleitenden Darstellung der Ergebnisse der Vorstudie und des Forschungsstandes werden die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse der Arbeit formuliert. Daran schließen sich theoretische Ausführungen zum Habitusbegriff und zum Milieukonzept an. Aufbauend darauf wird das methodische Vorgehen dieser Untersuchung sowie die Auswertung und Analyse der gewonnenen Daten beschrieben. Daraus werden Schlussfolgerungen für die Pflegebildung in der Form abgeleitet, dass Anpassungsstrategien von Auszubildenden besser verstanden und die Begleitung von Lernprozessen individueller gestalten werden können, wenn Habitus bzw. Milieu Berücksichtigung finden.
Die beschriebene Untersuchung verfolgt das Ziel, Anpassungsstrategien von Auszubildenden an wechselnde, zum Teil widrige Ausbildungsbedingungen zu systematisieren, theoretisch zu unterfüttern und dadurch besser zu verstehen. In einem mehrperspektivischen Vorgehen wurden neben dem Einbezug der in einer Voruntersuchung gewonnenen Daten Gruppendiskussionen und schriftliche Befragungen durchgeführt sowie Collagen erstellt. Darüber hinaus wurden soziodemographische Daten der Auszubildenden erhoben. Als Ergebnis der komplexen Datenauswertung nimmt die Autorin eine Typenbildung vor, bei der zwischen Rebellen und Fügsamen unterschieden wird. Versucht der Rebell konsequent an den im Rahmen der theoretischen Ausbildung vermittelten Haltung der Patientenorientierung festzuhalten und diese umzusetzen, resigniert die Fügsame und nimmt die patientenignorierenden Arbeitsbedingungen als schwer oder nicht veränderbar hin, um die Ausbildung zu überstehen. Aber wie kommt es nun, dass der eine Auszubildende zum Fügsamen wird, während die andere Auszubildende zu Rebellin wird?
Zur Beantwortung dieser Frage wird das Habitus-Konzept von Bordieu sowie der Milieu-Ansatz von Bremer herangezogen. Demzufolge entwickeln alle Menschen einen sogenannten Habitus, eine grundlegende Haltung gegenüber dem Leben, der aus „verinnerlichten Prinzipien der Lebensführung“ entsteht (Bordieu). Jeder Mensch ist also ein Abbild seiner Lebensbedingungen. Menschen mit ähnlicher Lebenspraxis und ähnlichem Habitus bilden ein soziales Milieu, welches wiederum den Habitus der Menschen beeinflusst, die in diesem leben. So zeigt sich je nach sozialem Milieu ein unterschiedlicher Umgang mit Bildung (Bremer). Die oberen Milieus betrachten Bildung als einen hohen, eigenständigen Wert. Bildung dient der Selbstverwirklichung und wird von den Zugehörigen aktiv gesucht. In den respektablen Milieus wird Bildung als nützlich betrachtet, um sich zu behaupten und den eigenen Status zu erhalten oder auszubauen. Bildung wird vollzogen, wenn es dem Menschen etwas bringt. In den unterprivilegierten Milieus wird Bildung als notwendig erachtet, um nicht den Anschluss zu verlieren. Bildung gilt als Bürde und verunsichert und wird deshalb oft auch gemieden.
Diese theoretischen Grundlegungen verknüpft die Autorin mit ihren Forschungsergebnissen und zeigt auf, dass die Anpassungsstrategien der Auszubildenden an die Ausbildungsbedingungen davon abhängen, mit welchem Habitus bzw. aus welchem sozialen Milieu die Auszubildenden in die Ausbildung eintreten. Je nachdem aus welchem sozialen Milieu die Auszubildenden kommen, werden sie also mehr oder weniger in der Lage sein, sich eigenverantwortlich und selbständig Bildungsinhalte anzueignen und diese argumentativ in der Pflegepraxis zu vertreten.
Die Autorin zeigt auf, dass die Mehrzahl der von ihr befragten Auszubildenden aus einem Arbeiter- bzw. Kleinbürgermilieu stammen und ein pragmatisches Bildungsverständnis aufweisen. Bildung ist hier Mittel zur Bewältigung der beruflichen Anforderungen. Man orientiert sich an Expert*innen und deren Wissen, ein selbstgesteuerter Wissenserwerb und ein emanzipatorischer Umgang damit ist unpopulär. Die Auszubildenden treten mit einem Habitus in die Ausbildung ein, der im Feld Pflege nicht „passend“ ist. Sie stehen also vor der Anforderung, ihren Habitus anzupassen, „zu dehnen“. Dabei brauchen sie professionelle Begleitung aus der Berufsgruppe, um die Anforderungen im Bereich Pflege gut erfassen und darauf reagieren zu können. Für den Bereich der schulischen Ausbildungen bedeutet dies, dass die verwendeten Methoden so vielfältig sein sollten, dass sie auf Lernende aller Milieus anschlussfähig sind.
Insgesamt leistet die Studie einen Beitrag dazu, das Feld Pflegeausbildung und deren Problemlagen besser zu verstehen. Die Erkenntnisse ermöglichen es den Lehrenden, also Praxisanleitenden und Lehrer*innen, ihre pädagogische Begleitung des Lernens individueller auf die vorliegende Habitusstruktur und das Herkunftsmilieu der Lernenden abzustimmen. Dies bietet die Chance, das Erleben der Auszubildenden zu verbessern und die Qualität der Ausbildungsergebnisse zu erhöhen. Inwieweit sich dadurch das gesamte Feld der Pflege zum Positiven verändert, bleibt dahingestellt.
Die Autorin legt eine anspruchsvolle, komplexe Untersuchung vor, die dem Leser eine konzentrierte Lektüre abfordert, um alle vorgenommenen Bezüge nachvollziehen und die Essenz erfassen zu können. Hierzu wären an manchen Stellen klarere Aussagen für das Verständnis hilfreich gewesen. Nichtsdestotrotz lohnt die anstrengende Arbeit, wird sie doch mit Erkenntnissen belohnt, die es ermöglichen, Auszubildende von Beginn an so zu begleiten, dass sie im Feld Pflege lern-, handlungs- und argumentationsfähig werden, und so ihrer Überzeugung der Patientenorientierung besser folgen können. Anfechtungen aus der Praxis in Bezug auf ein ungenügendes Arbeitstempo oder überflüssige Handlungen sollten in der Folge dann leichter zurückgewiesen werden können. Die Inhalte dieses Buches sind hochrelevant für alle, die pädagogisch im Feld Pflege arbeiten. Sie sollten unbedingt Eingang finden in die Weiterbildung der Ausbilder*innen (Praxisanleitenden) sowie in die pflegepädagogischen Studiengänge.
Eine Rezension von Prof. Dr. Klaus Müller